Wer Albanien als Reiseziel ins Auge fasst, erntet gewöhnlich
Stirnrunzeln. Eine Expedition ins Ungewisse stellen sich die meisten darunter
vor und so ganz Unrecht haben sie nicht, ist doch dieser jahrzehntelang
abgeschottete Winkel des Balkans touristisch noch weitgehend unerschlossen.
Auch liegt immer noch eine Aura des Geheimnisvollen,
Wilden, ja Ungezügelten nicht nur über seinen unberührten
Bergregionen, sondern auch über dem Alltagsleben und dem Geschehen
in Politik und Wirtschaft. So sind es nur wenige, die sich auf das Abenteuer
Albanien einlassen wollen. Und das heißt Schlaglochstraßen
ohne Wegweiser und chaotisches Verkehrsgetümmel in den Städten
zu ertragen, trostlose Industriebrachen zu sichten und unzählige
wie überdimensionale Champignons über das Land verstreute Kleinbunker,
betonierte Erinnerungen an eine Zeit, als sich Albaniens Machthaber von
Feinden umzingelt wähnte. Und dann die andere Seite des Abenteuers:
die grandiosen Hochgebirgs- und Seenlandschaften, eine mediterran geprägte
Küstenzone, die reiche Tier- und Pflanzenwelt sowie eine Unmenge
historischer Stätten und nicht zuletzt die Begegnung mit einem umgänglichen
Menschenschlag.
Vielleicht hatte der alte Mann am Hafen von Saranda recht, als er uns
zum Abschied lächelnd sagte: Zunächst haben alle Ausländer
Angst bei uns, aber wer einmal hier war, der kommt wieder, weil er Albaniens
Schönheit nicht vergessen kann. Und daß sie eines Tages
in großer Zahl das Land der Skipetaren bereisen werden, das erst
Ende der 80er Jahre aus stalinistischer Isolationshaft auftauchte und
nun seinen Platz in der Welt sucht, wünscht man sich sehnlich in
Tirana und anderswo und weiß auch schon, wie die touristische Zukunft
aussehen soll: von nachhaltiger Entwicklung und ökologisch
verträglicher Form ist ganz zeitgemäß die Rede und:
Wir wollen Gäste, die sich mit der Kultur und Geschichte unseres
Landes auseinandersetzen. Das ist unsere Zielgruppe!
Tirana
In der Halbmillionenmetropole Tirana wird die im Land herrschende Auf-
und Umbruchstimmung am stärksten spürbar. Die Stadt brodelt.
Sie ist eine einzige Baustelle. Triste Plattenbauten und unverputzte Häuserfassaden
aus der bleiernen Zeit des Enver Hoxha erhielten auf Anregung
des Bürgermeisters, kurzzeitigen Kulturministers und Malers Edi Rama
kräftige Farbanstriche und eigenwillige Muster. Und der nach Albaniens
Nationalhelden Skanderbeg benannte Hauptplatz der Stadt zeigt sich in
neuer großstädtischer Pracht, umrahmt vom 35 m hohen Uhrturm
aus osmanischer Zeit (1830), dem Skanderbeg-Denkmal und der Ethem Bey-Moschee
vom Ende des 18. Jahrhunderts. Das einst orientalische Stadtbild mit italienisch-faschistischen
Einsprengseln aus der Zwischenkriegszeit verändert sich rasend schnell
die Architektur-Moderne hat Einzug gehalten. Wenigstens zwei Museen
sollten Besucher in ihr Besichtigungsprogramm aufnehmen: das Historische
Museum am Skanderbeg-Platz mit geschichtlichen Darstellungen von der Steinzeit
bis zum nationalen Befreiungskampf und das Archäologische Museum
mit Exponaten aus der Frühzeit bis in die byzantinische Epoche.
Durch das Land
Ein Ausflug bringt uns auf der Schnellstraße in der Küstenebene
nach Shkodra, der wichtigsten Stadt im Norden des Landes. Heute
eher ein verschlafenes Landstädtchen, erlebte es seine große
Zeit während der osmanischen Epoche (1468-1912) als eigentliche Hauptstadt
Albaniens. Aus jener Zeit stammt die Xhamia e Plumbit, die Bleimoschee,
und die einige Kilometer östlich der Stadt gelegene, noch immer genutzte
Steinbrücke von Mesi, die auf 15 Bögen den Kir-Fluß überwindet.
Gut pausieren läßt es sich im berühmten Kafja e
Madhe, dem Großen Café, um so gestärkt die Burg
Rozafa etwas außerhalb der Stadt auf einem beherrschenden Hügel
oberhalb des Buna-Flusses zu besteigen. Das mächtige Festungswerk
mit seinen frühen illyrischen Wurzeln wurde noch Anfang des 20. Jahrhunderts
vom türkischen Militär genutzt. Den See von Shkodra teilen
sich Montenegro und Albanien. Seine Ufer sind wegen des schwankenden Wasserstands
nicht einfach zu erreichen. Nach der Schneeschmelze in den Bergen vergrößert
sich seine Oberfläche auf etwa 540 km² und er erreicht fast
die Größe des Bodensees, im Hochsommer sind es nur 375 km².
Die beiden Dörfer Shiroka und Zogaj am Südwestufer sind die
beste Adresse für Ausflügler. Shikondra ist auch das Tor zu
der wilden, waldreichen, nur dünn besiedelten und touristisch unerschlossenen
Gebirgslandschaft der Albanischen Alpen, die nur unter ortskundiger
Führung Ihre Geheimnisse preisgibt.
Auf dem Rückweg aus dem
Norden passieren wir die Städte Lezha und Kruja, beide aufs
engste mit Albaniens Nationalheros Skanderbeg verbunden. 1444 einte er
in Lezha, dem antiken Lissos, die albanischen Stämme im Kampf gegen
die Türken. 1468 starb er hier und wurde in der Nikolauskirche beigesetzt,
heute eine Gedenkstätte für den großen Kämpfer. Kruja
widerstand unter Skanderbegs Führung mehreren Angriffen osmanischer
Sultane, wodurch der türkische Vormarsch ins Abendland aufgehalten
werden konnte. Die Ruinen der Burg und das Skanderbeg-Museum lohnen einen
Besuch.
Südwestlich von Tirana liegt Durres, zweitgrößte
Stadt und bedeutendster Hafen des Landes, sein Tor zum Westen. Früher,
als die Stadt noch Dyrrachium hieß, war sie auch ein Tor zum Osten,
denn hier begann die Via Egnatia als östliche Fortsetzung der Via
Appia. Sie verband Rom mit Konstantinopel. Aus jener Blütezeit stammt
das Amphitheater (2. Jahrh.) mit einer winzigen einschiffigen Kapelle,
die in die Unterbauten des Theaters im 6. oder 7. Jahrhundert eingefügt
wurde. In der unscheinbaren Kapelle haben sich kostbare Wandmosaiken erhalten.
Einer der schönsten und längsten Sandstrände Albaniens
erstreckt sich in unmittelbarer Stadtnähe. Auf dem Weg in den Süden
durchqueren wir die Myzeqe, eine überaus fruchtbare Schwemmlandebene
zwischen den Flüssen Shkumbin und Seman. Kurz vor ihrem Zentrum,
dem Städtchen Fieri, liegt auf einem Hügel mit prachtvoller
Aussicht das restaurierte Kloster von Ardenica mit der wohlerhaltenen
Marienkirche aus dem Jahre 1743.
Auf griechische Kolonisten aus dem nahen Korfu und Korinth geht die Gründung
von Apollonia südwestlich von Fieri zurück. Unter römischer
Herrschaft war die Stadt Ausgangspunkt des südlichen Stranges der
Via Egnatia und erlangte enorme wirtschaftliche und strategische Bedeutung.
Das Ende kam schleichend, als benachbarte Flüsse die Küstenlinie
verschoben und der Hafen versandete. Apollonias weitläufiges Ruinenfeld
ist eine der bedeutendsten archäologischen Stätten des Landes.
Zu den herausragenden Baudenkmälern Albaniens zählt auch die
gegen Mitte des 13. Jahrhunderts auf dem antiken Gelände errichtete
Marienkirche, eine Kreuzkuppelkirche des Vierstützentypus,
bei deren Bau zahllose Spolien aus antiken Bauten Apollonias verwendet
wurden.
Ein Abstecher ins Landesinnere bringt uns in die Museumsstadt Berat
am Fluß Osumi. Von ihrer Blütezeit im 13. und 14. Jahrhundert
zeugen drei gut erhaltene Kirchen (Michaelskirche, Vlachernenkirche, Dreifaltigkeitskirche),
aus der Türkenzeit stammen die Blei-Moschee (1553/54) und die Mohammed
Tekke (ein Derwischkloster) sowie die 1797 errichtete große Basilika
(Marienkirche). Besonders ins Auge fällt das türkenzeitliche
Stadtviertel Mangalem am Fuße des Burgbergs mit Häusern vor
allem aus dem 18. und 19. Jahrhundert, die sich eng zusammendrängen
und Obergeschosse mit weit auskragenden Dächern tragen. Sie sind
weiß verputzt und zeigen viele Fenster, die Berat den schönen
Beinamen Stadt der 1.000 Fenster einbrachten.
Wieder zurück an die Küste nach Vlora, Hafenstadt, Badeort
und Ausgangspunkt für einen Besuch des etwas hochtrabend Albanische
Riviera genannten rund hundert Kilometer langen unberührten
Küstenstreifens, auf den Europas führende Touristikunternehmen
schon begehrliche Blicke werfen. Noch aber windet sich die enge, schlaglochreiche
und leitplankenlose Küstenstraße durch unzählige Kurven,
hinter denen Oliven- und Zitronenhaine liegen und noch keine Hotels, passiert
kleine, urtümliche Dörfer, deren Häuser wie Schwalbennester
in den Hang gebaut sind. Das Gelände fällt steil und felsig
zum türkisfarbenen Meer hin ab, gibt einsame Buchten frei mit weißen
Sand- und Kieselstränden und kristallklarem Wasser. Saranda
könnte sich zur touristischen Drehscheibe entwickeln. Das Hafenstädtchen
am südlichen Ende der Riviera ist schon heute Dank der nur 6 km entfernten
griechischen Ferieninsel Korfu ein quicklebendiger Umschlagplatz für
Touristenströme, die es u. a. nach Butrint zieht. Das steinerne
Erbe des antiken Buthrotum, das Vergil ein kleines Troja nannte,
liegt im hintersten Winkel Albaniens 15 km südlich von Saranda an
einer strategisch günstigen Stelle, nämlich auf dem Ausläufer
einer weit vorspringenden und auf drei Seiten von Wasser umgebenen Halbinsel.
Nach Griechen und Römern haben auch Byzantiner und Venezianer ihre
Spuren im Gelände hinterlassen und das macht die als Weltkulturerbe
ausgewiesene Stätte mit ihrer stark ausgebauten Akropolis und weitläufigen
Unterstadt zu einem hochinteressanten Freilichtmuseum.
Wir verlassen nun die Küste und reisen landeinwärts durch großartige
Berglandschaften. Erstes Ziel ist das Dorf Mesopotam mit der nahen
Klosterkirche St. Nikolaus, dem größten byzantinischen Gotteshaus
Albaniens, das in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts entstand
und möglicherweise für den lateinischen u n d den orthodoxen
Ritus bestimmt war. Nächster Halt ist in der Museumsstadt Gjirokastra.
Siesteht seit 1961 unter Denkmalschutz. Ihre Zitadelle auf einem Hügel
über dem Tal des Drino bestimmt das Stadtbild. Einzelne Wohnquartiere
verteilen sich malerisch an den Berghängen und bringen so recht die
stattlichen Häuser aus dem 18. und 19. Jahrhundert zur Geltung. Darunter
sind quadratische Wohntürme mit Wehrcharakter und Gebäude mit
einem oder zwei vorspringenden Flügeln, darüber ein vorkragendes
mit Holzstreben gestütztes Dach. Sie werden traditionell aus Steinquadern
errichtet und mit weißen oder grauen Steinplatten gedeckt. Steinstadt
nennt man deshalb Gjirokastra. Dann geht es durch Schluchten und über
Pässe hinauf auf die fruchtbare Hochebene von Korça
und weiter bis auf 1.160 m Höhe zum Dorf Voskopoja, das, kaum
glaublich, im 18. und 19. Jahrhundert durch den Ost-West-Handel reich
geworden, zweitgrößte Stadt nach Istanbul in der europäischen
Türkei gewesen sein soll. 26 Kirchen entstanden in ihrer Glanzzeit,
von denen heute noch fünf vollständig erhalten sind und einen
Besuch lohnen. Zurück im Hauptort der Gegend, Korça, werfen
wir noch einen Blick auf die bedeutende Mirahor-Moschee aus dem Jahre
1496, dem frühesten erhaltenen Beispiel einer Einkuppel-Moschee in
Albanien.
Nur noch drei, vier Dutzend Kilometer sind es von Korça zu den
großen Seen im landschaftlich sehr reizvollen Grenzgebiet zu Griechenland
und Makedonien. Zuerst kommt der Kleine Prespa-See (45 km²)
in Sicht, von dem ein winziger Zipfel nach Albanien hineinreicht. Eine
schmale Landbarriere trennt ihn vom Großen Prespa-See (273
km²). Vielleicht ein Viertel seiner Fläche liegt auf albanischem
Territorium. Hohe Berge rücken bis nahe an die stark gegliederten
Ufer. Kleine Inseln schwimmen in beiden Seen. Sie sind fischreich und
die Heimat seltener Tier- und Pflanzenarten (z. B. einiger Pelikanarten).
Als besonders schützenswerte Feuchtgebiete gehören die Gewässer
zum Prespa-Nationalpark, einem Gemeinschaftsprojekt Albaniens, Griechenlands
und Makedoniens. Mit rund 2.000 km² zählt er zu den größten
Naturschutzgebieten Europas. Die 853 m hoch gelegenen Prespa-Seen entwässern
unterirdisch zum Ohrid-See in 695 m Höhe. Der größere
Teil dieses Sees liegt auf makedonischem Gebiet, der kleinere gehört
zu Albanien. Zerklüftete Karstgebirge umrahmen das 349 km² große
und bis zu 289 m tiefe Gewässer. Damit zählt der Ohrid zu den
tiefsten und überdies ältesten Seen der Welt. Er ist die Heimat
einiger interessanter endemischer Tier- und Pflanzenarten und aus gutem
Grund nennt man ihn Museum lebendiger Fossilien. Die Gegend
um den Ohrid-See mit seiner weitgehend unberührten Seen- und Gebirgslandschaft
könnte eines nicht so fernen Tages ein Highlight für Albanientouristen
werden.
Abschied vom gebirgigen, seenreichen Osten. Bei Librazhd biegen wir auf
guter Straße in das Shkumbin-Tal ein, absolvieren in Elbasan
an der alten Via Egnatia unsere letzte Stadtbegehung (Bauten aus der Türkenzeit
wie das auf antiken Fundamenten ruhende Kastell sowie die Sultans- und
die Nazireshe-Moschee. Von den 1930 noch 31 Moscheen fielen die meisten
der Kulturrevolution des Enver Hoxha zum Opfer). Mit dem letzten
Teilstück nach Tirana schließt sich der Kreis. Eine manchmal
strapaziöse, aber immer spannende Rundreise voller ungewohnter Bilder
und Begegnungen geht zu Ende. Aber die optimistischen Worte des Alten
am Hafen von Saranda machen den Abschied leicht.
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